Der Rothirsch ist der Platzhirsch
Im Nationalpark gelten andere Regeln als in einem „normalen“ Wald. Das gilt auch für den Umgang mit größeren Wildtieren. Deshalb kümmert sich im Fachbereich 5 „Wald und Naturschutz“ ein sechsköpfiges Team speziell um das so genannte Schalenwild.


„Schalen“ heißen in der Jägersprache die Hufe von Wildtieren. Schalenwild, das im Nationalpark Schwarzwald vorkommt, sind Rehe, Wildschweine und vor allem Rothirsche. „Auf dem Rotwild liegt unser Hauptaugenmerk“, verdeutlicht Friedrich Burghardt, Leiter des Schalenwildmanagements. „Wildschwein und Reh fallen hier zahlenmäßig nicht so sehr ins Gewicht.“
So seltsam es klingt, aber mit den Rothirschen verhält es sich ähnlich wie mit dem Borkenkäfer. Ziel in einem Nationalpark muss es sein, in den Kernzonen irgendwann nicht mehr in die Natur einzugreifen. Wenn dort aber der Rothirsch nicht mehr gejagt wird, kann er sich ungestört vermehren. Fraglos ist er viel mobiler als der Borkenkäfer und er kann ohne Weiteres in benachbarte Wirtschaftswälder wandern – und dort Schäden anrichten. Eine nur 500 m breite Pufferzone wie beim Borkenkäfermanagement würde hier wenig Sinn geben. Bedeutet dies also, dass man beim Schalenwild eine Ausnahme machen und es wie bisher bejagen müsste, um die benachbarten Waldbesitzer zu schützen?
Friedrich Burghardt ist da etwas anderer Ansicht. Er ist überzeugt, dass sich Waldbesitzer nicht sorgen müssten, wenn das Wild sich seiner Natur gemäß verhalten könnte. „Man muss eines wissen“, holt er aus. „Der Rothirsch frisst am liebsten Gras – wenn man ihn denn lässt. Aber wo wird gejagt? An Waldrändern und auf Lichtungen. Rothirsche sind sehr sensibel, sehr intelligent und sehr lernfähig. Der Abschuss eines Herdenmitglieds bedeutet eine negative Erfahrung, die nicht vergessen wird.“ Die Folge ist, dass sich das Rotwild von den Wiesen fernhält und gezwungen ist, im Wald junge Triebe und die Rinde junger Bäume abzufressen. Diese können sich nicht entwickeln und sind für die Holzwirtschaft wertlos.
„So entsteht der ‚Teufelskreis des Jagddrucks‘“, erklärt Burghardt. „Weil die Schäden größer werden, gehen wir öfter auf die Jagd. Das Wild wird immer scheuer und zeigt sich nur nachts. Man erwischt nur noch unerfahrenes Jungwild, die erfahrenen Muttertiere bekommen wir kaum mehr zu Gesicht. Die aber produzieren dennoch Nachwuchs und an den geben sie ihre negativen Erfahrungen weiter. So wachsen der Bestand und die Schäden an den Bäumen weiter, ebenso der Jagddruck.“
Eine der Aufgaben der Schalenwildmanager im Nationalpark Schwarzwald ist es, Hirsche zu fangen und mit Senderhalsbändern auszustatten, um ihre Bewegungen nachvollziehen zu können. Bislang ist das bei vier Hirschen gelungen, zehn bis 15 weitere sollen noch „besendert“ werden (siehe Kasten). Hier ist Gebietsleiter Bernd Schindler der Experte. Er zeigt eine Karte mit den GPS-Daten eines Hirsches über sechs Monate. „Sie sehen, die Tiere sind sehr standorttreu“, so Schindler. „Der Aktionsradius ist nicht groß. Dieser Hirsch hat sich in unmittelbarer Nähe von saftigen Wiesen aufgehalten, hat sie aber kein einziges Mal betreten.“
Was also viele Menschen gar nicht wissen: Dass Rotwild Wälder schädigt, gehört gar nicht zu seinem natürlichen Verhalten, sondern ist zu einem großen Teil auch vom Menschen durch dessen Jagdverhalten erzwungen. Hinzu kommt, dass in Baden-Württemberg der Rothirsch nur auf drei Prozent der Landesfläche überhaupt vorkommen darf. Er ist per Gesetz in fünf ziemlich kleine Reservate zurückgedrängt worden, wovon dasjenige im Nordschwarzwald mit 120.000 Hektar noch das größte ist.
Im Südschwarzwald ist das Rotwildgebiet 17.000 Hektar groß, im Odenwald 20.000, im Schönbuch 4.000 und im Allgäu 3.000. Wenn ein Tier einen Fuß über die Grenzen setzt, herrscht Erlegungspflicht. Außerdem kommen die Tiere nur noch in den höchsten Mittelgebirgslagen mit den höchsten Schneehöhen vor – auch das widerspricht ihrer Natur. Burghardt erläutert die Hintergründe: „Das Gesetz stammt aus den Fünfzigerjahren. Nach dem Krieg ging es vor allem um die Ernährungssicherung der Bevölkerung. Der Rothirsch durfte demnach nicht mehr in Gebieten mit landwirtschaftlicher Nutzung oder wertvollem Laubholz vorkommen.“ Das findet er nicht mehr zeitgemäß.
„Sollten wir als eines der reichsten Bundesländer, wahrscheinlich europaweit, diesem Tier nicht mehr Lebensraum zugestehen?“
Was bedeutet das nun für das Schalenwildmanagement im Nationalpark? Für Friedrich Burghardt ist das keine Frage: „Unser Ziel ist es, Strukturen zu schaffen, die es erlauben, auf einer möglichst großen Fläche Prozessschutz auch für große Säugetiere zu schaffen, ohne angrenzende Privatwälder zu gefährden. Das bedeutet auch, dem Rothirsch wieder sein natürliches Verhalten zu ermöglichen. Er soll ungestört auf Wiesen äsen und wieder tagaktiv werden können. Wir wollen die Bejagung langsam zurückfahren und in den Kernzonen langfristig ganz einstellen.“ Für den Wildexperten ist es das Wichtigste, dass die Tiere wieder zu einem natürlichen so genannten Raum-Zeit-Verhalten zurückkehren können. Das bedeutet nichts Anderes, als dass die Hirsche wieder tagaktiv sein können und sich auf Wiesen auch in niedrigeren Lagen aufhalten.
Es ist nicht sinnvoll, von heute auf morgen mit der Jagd aufzuhören. „Wir wollen zunächst die Jagdstrategie so verändern, dass die Tiere besser damit umgehen können.“ Das bedeutet, dass es kürzere Jagdzeiten und eher Drückjagden mit Treibern und Hunden geben wird als die Ansitzjagd vom Hochsitz aus. Deshalb werden auch feste Hochsitze abgebaut und stattdessen mobile Hochsitze eingesetzt. „Dabei müssen wir berücksichtigen, dass einige alte Hochsitze ein beliebtes Habitat für Fledermäuse sind“, lächelt Burghardt.
Die Jagdstrategie, das betont Burghardt deutlich, wird selbstverständlich eng mit allen Anrainern abgestimmt. Auch der Leiter des Schalenwildmanagements streitet nicht ab, dass die Schäden durch Rotwild sehr gravierend sein können. Allerdings glaubt er daran, dass sich der schlaue Rothirsch irgendwann nicht mehr aus dem Nationalpark fortbewegen wird, sobald er gelernt hat, dass er hier sicherer ist. Als Beispiele nennt er den Nationalpark Hainich in Thüringen und den Schweizer Nationalpark in Graubünden, in denen das Rotwild nicht mehr gejagt wird, aber auch keine Probleme bereitet. Gerade im Schweizer Nationalpark, wo seit 100 Jahren nicht mehr gejagt wird, lassen sich die Hirsche durch menschliche Zuschauer nicht bei der Brunft stören. Schindler fügt hinzu: „Wir haben heute schon einen Bereich von rund 2000 Hektar in den höchsten Lagen, in dem wir bis vor einiger Zeit nur noch starke Trophäenträger geschossen haben, die für den Bestand unerheblich sind. Hier können wir schon heute die Jagd einstellen, ohne die Nachbarn zu gefährden.“
Auch das Auerhuhn profitiert davon, wenn der Hirsch wieder mehr im Freien frisst, denn es braucht lichte Strukturen und Ruhe. Auch wenn sie selbst nicht gejagt werden dürfen, so bedeutet das Jagdgeschehen trotzdem Stress für die seltenen Vögel.
Burghardt und seine Leute hoffen auf die anstehende Rotwildkonzeption, die Ende des Jahres von der Forstlichen Versuchsanstalt für den gesamten Nordschwarzwald erstellt werden soll. „Hier kommen Tourismus, Naturschutz, Landbesitzer, Forstbesitzer und Jägerschaft zusammen und überlegen gemeinsam, wie sie mit diesem Tier umgehen.
Es wäre für uns ein Glücksfall, wenn wir uns mit unserem Wildtiermanagement in ein größeres Konzept eingliedern könnten.“ Um mit den Privatwaldbesitzern zu einer einvernehmlichen Lösung zu gelangen, ist das Monitoring eine wichtige Aufgabe der Schalenwildmanager. Neben der Besenderung gehören auch Wildkameras, die Untersuchung des Kots und das Fährtenlesen dazu, um die Entwicklung des Wildbestands und seine Wanderungen zu erfassen. „Durch gutes Monitoring können wir zeigen: Gehen die Tiere raus aus dem Nationalpark oder bleiben sie drin? Für unsere vier besenderten Hirsche können wir sagen: Sie bleiben im Wesentlichen drin!“ Eine sichere Quantifizierung des scheuen Wilds ist schwierig. „Wir schätzen den Bestand im Nationalpark auf 350 bis 370 Stück“, sagt Burghardt.
Die geplante Erweiterung und Verbindung der Grindenflächen untereinander soll auch dem Rotwild nützen. Dabei soll es nicht nur mehr freie Flächen geben. Mit Büschen und Baumreihen in Randbereichen der Grinden will man den Hirschen einen Sichtschutz bieten, hinter dem sie sich wieder aufs Gras wagen können. Langfristig werden sie dann auch für die Nationalparkbesucher leichter zu beobachten sein. Doch das wird einige Jahre und Hirschgenerationen in Anspruch nehmen. „Wenn wir eine einvernehmliche Strategie mit den Waldnachbarn gefunden haben und alles andere auch gut läuft, können wir die Bejagung in den Kernzonen bis zum Jahr 2020 einstellen“, schätzt Burghardt vorsichtig optimistisch. „Bis sich der Hirsch wieder natürlich verhält, wird es dann aber rund 20 Jahre dauern.“